Das MeinungsBILD über Diversity
Das Leben besteht aus einer Flut von Eindrücken. Ein Mega-Tsunami von Informationen und Er-fahrungen, um genau zu sein. Wir Menschen nutzen eine genialeinfache Technik, um dieser Komplexität Herr (oder Frau) zu werden: Wir achten auf Wiederholungen, sogenannte Muster, und vergleichen Neues mit Vergangenem. Die so entstehenden Kategorien und Referenzen erleichtern uns den Umgang im Alltag – und in Ausnahmesituatio-nen. Zahllose Quellen dienen dem lebenslangen Lernen. Die Medien zum Beispiel. Aber Menschen sind bequem – Le-serInnen, ZuschauerInnen und auch JournalistInnen. Und daher machen wir es uns so einfach wie möglich. Selektion heißt die wirkungsvolle Wunderwaffe der Wahl. Das gezielte – mal bewusste, mal unbewusste – Weglassen von Infor-mation(en) macht aus reichhaltigen Realitäten simple Sach-verhalte. So entstehen Verknüpfungen wie Frau – Mutter – Kinder – Teilzeit, Migrant – Sprachprobleme – Innendienst – einfache Tätigkeiten, Alte – Abbau – Schwäche – Abstellgleis. Beispiele, und seien sie noch so zahlreich, die nicht ins Bild passen, werden gerne übersehen. Bestätigungen wirken dagegen umso stärker. Alltägliche Vielschichtigkeiten wie zum Beispiel die Tatsache, dass jeder Mensch aus einer Vielzahl von Charakteristiken besteht, kommen in unserem Schubladensystem kaum vor. Und in dem Medien erst recht nicht. In Fachartikeln und Wortlaut-Interviews erfährt daher nur eine kleine privilegierte Gruppe von differenzierten Zusammenhängen. So zum Beispiel die Leser der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die kurz nach Dienstantritt des neuen Henkel-Chefs von dessen differenzierten Diversity-Zielen lesen durften. Aber BILD wäre nicht was es ist, wenn es nicht gleich am nächsten Tag die dümmliche Head-line „Henkel-Chef macht sich für Frauen stark“ produziert hätte. Es folgt ein gnadenlos verkürzt und verdrehter Ab-schrieb des Interviews und eine Bestätigung unserer Vorannahme über das ‚auflagenorientierte’ Blatt. Aber Einseitigkeiten treten auch bei der Wirtschaftswoche auf, die allerlei Frauenförderung als Heilmittel gegen Geschlechter-Einfalt im Management präsentiert, oder im ManagerMagazin, wo mit selektiven Beispielen gegen zaghafte Diversity-Fortschritte polemisiert wird. Journalisten scheinen – wie auch viele Manager – nur noch das Geschäft im Blick zu haben, während ethische Prinzipien, Berufs-Ethos und Verantwortungsbewusstsein weder für die Arbeit noch den Umgang zu gelten scheinen. Tat-sächlich findet Diversity in der deutschen Medienlandschaft nicht annähernd die Bedeutung, die es in der Praxis gewonnen hat. Schafft es das Thema in die Rubrik „Gesellschaft“, dann meist mit einem Teilaspekt wie Frauenförderung, Integration von Migranten oder alternde Belegschaft. Das Bild, das dabei von einzelnen Gruppen gezeichnet wird, bestärkt bestehende Vorannahmen, anstatt das zu tun, was Diversity leisten kann: Vielfältige Potenziale auf-zeigen und Zusammenhänge jenseits stereotyper Denkweisen erkennen. Positive Beispiele finden sich gelegentlich in der Süddeutschen Zeitung oder in den Berufsbeilagen. Insgesamt aber fristet Diversity in den deutschen Medien ein Schattendasein. Damit sind wir am typischen Beginn für Diversity: Bei der Journaille Bewusstsein schaffen, aufklären, Vorbehalte abbauen. Nur: Wer ist im deutschen System eigentlich zuständig für die Themenauswahl in den Medien? Ihre Unabhängigkeit bildet ein Grundpfeiler der Demokratie, mutiert aber zum Problem, wenn am Ende die persönliche Meinung einiger weniger über das Entscheiden, was das Bild der Öffentlichkeit prägt. Wie immer sind es letztlich die KundInnen – also die LeserInnen, die aufgefordert sind, durch Rückmeldung Einfluss zu nehmen. Aber wer schreibt heute noch (Leser)Briefe …?