Das Leben türkischstämmiger Frauen in Deutschland
Mehr als 40 Jahre sind vergangen, seit die ersten TürkInnen als sogenannte Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Mittlerweile leben rund 1,8 Millionen TürkInnen in der Bundesrepublik, 46 Prozent von ihnen sind Frauen. Die Mehrheit der weiblichen türkischen Bevölkerung hierzulande, etwa drei Viertel, ist in Deutschland aufgewachsen. Dennoch ist die Wahrnehmung von türkischen Frauen in Deutschland weiterhin geprägt von einem niedrigen Bildungsniveau, schlechten Deutschkenntnissen, gesellschaftlicher Isolation und einer Benachteiligung gegenüber türkischen Männern.Nach einer Umfrage der Stiftung Zentrum für Türkeistudien (ZfT) unter 1.000 türkischstämmigen MigrantInnen in Nordrhein-Westfalen, die die Lebenssituation türkischer MigrantInnen untersuchte, ergibt sich ein „differenziertes, aber auch widersprüchliches Bild“, so ZfT-Direktor Faruk Sen. Danach gibt es zahlreiche unterschiedliche Rollenentwürfe und Lebensformen unter den türkischen Frauen in Deutschland. Die Ergebnisse der Studie widerlegen einen Teil der vorhandenen Vorurteile und Klischees. Beispielsweise kann nicht davon gesprochen werden, dass die Mehrheit der türkischstämmigen Frauen in Deutschland über keine qualifizierte Schulbildung verfügt; rund ein Viertel verfügen über Abitur oder einen Lise-Abschluss, ein weiteres Viertel hat einen mittleren Schulabschluss erreicht. Bezüglich der beruflichen Ausbildung ist jedoch ein deutliches Defizit türkischer Frauen gegenüber türkischen Männern festzustellen. Wesentlich mehr Frauen (59%) als Männer (40%) haben keine berufliche Ausbildung absolviert, auch der Anteil der Frauen mit Universitätsabschluss liegt deutlich unter dem der Männer. Dies betrifft auch die jüngeren Altersgruppen.Generell sind die türkischstämmigen Frauen stark in familiäre Bezüge eingebunden. Erwartungsgemäß obliegt eher den Frauen die Erziehungsarbeit. So meinen 56 Prozent der Frauen, dass die Zuständigkeit für die Kindererziehung hauptsächlich bei den Müttern stattgefunden habe. Die familiäre Situation ist durch eine „klassische“ Aufgabenteilung zwischen Männern und Frauen gekennzeichnet: Nur jede fünfte Frau geht einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit nach. Die Mehrheit der türkischstämmigen Hausfrauen würde allerdings gerne einer Erwerbstätigkeit nachgehen, wird aber durch die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf daran gehindert: 60 Prozent der Hausfrauen gaben an, einer Erwerbsarbeit nachgehen zu wollen. Nur 40 Prozent der Hausfrauen sind mit dem derzeitigen Status zufrieden. Die traditionelle Frauenrolle, die sich auf die Familie beschränkt, findet bei einem Viertel der Befragten volle und bei einem weiteren guten Viertel (27%) teilweise Zustimmung. 47 Prozent lehnen diese ab. Rund die Hälfte der Befragten hält damit zumindest teilweise an der traditionellen Rolle von Frauen als Hausfrauen und Mütter fest. Erstaunlich gering sind die Einstellungsunterschiede betrachtet nach Geschlecht. Jüngere MigrantInnen haben der Studie zufolge nicht automatisch ein moderneres Frauenbild als ältere.Das Vorurteil der mangelnden Sprachkenntnisse speziell türkischstämmiger Frauen ist offensichtlich das Ergebnis selektiver Wahrnehmung, so die Studie, denn zumindest nach subjektiver Einschätzung ist das Niveau der Deutschkenntnisse bei Frauen nicht wesentlich geringer als das der Männer.Geld zur eigenen Verfügung zu haben, ist für einige Frauen türkischer Herkunft auch heutzutage keine Selbstverständlichkeit, obwohl gerade die finanzielle Unabhängigkeit als wichtiger Schritt der Emanzipation gesehen wird. Mehr als zwei Drittel (69%) der befragten türkischstämmigen Frauen gaben an, Geld zur freien Verfügung zu haben. Gut ein Viertel hat jedoch keine Verfügungsgewalt über Finanzmittel, bei den über 60-Jährigen Frauen sind es gar 36 Prozent.Die Studie zeigt, dass in dem türkisch geprägten Teil der Gesellschaft in Deutschland die geschlechtsspezifische Aufgabenzuteilung weit verbreitet ist: Ansätze für eine partnerschaftliche Arbeitsteilung bei Kindererziehung und Haushalt sind nur begrenzt vorhanden. Als kritisch stellt sich die geringe Einbeziehung auf dem Arbeitsmarkt und die mangelnde berufliche Qualifizierung von türkischen Frauen heraus. Bestehende Vorurteile, wie schlechte Deutschkenntnisse und ein niedriges Bildungsniveau, stellen sich indes als überholt heraus. „Daraus ergibt sich eine Chance für Unternehmen“, kommentiert Diversity-Berater Michael Stuber die Analysen. Die Wirtschaft könne verstärkt türkische Frauen bei der Rekrutierung von Auszubildenden ansprechen und von der verbreiteten Zweisprachigkeit und dem Wissen um kulturelle Besonderheiten profitieren. Dies böte sich insbesondere an, wenn Geschäftsbeziehungen zum Wachstumsmarkt Türkei angestrebt oder türkische Zielgruppen in Deutschland angesprochen werden. Der Managementansatz Diversity zielt darauf ab, das Verständnis für die Vielfältigkeit der Bevölkerung zu verbessern und daraus Nutzen zu ziehen. Diversity berücksichtigt vielfältige Unterscheidungsfaktoren gleichzeitig und in ihrem Zusammenwirken, z. B. Geschlecht und Migrationshintergrund oder Alter.Weiterführende Informationen finden Sie unter: hier