Kratzer am Kitschbild: Die Leid-Kultur der deutschen Werbung verschenkt Marktpotentiale

Es ist so wunderbar einfach, den Mann stets als Testosterongetriebenen Siegertypen und Wunschkundinnen stets als treusorgende Gattin und Mutter zu zeigen. Ebenso simpel sind die Bilder von coolen Jungs oder kranken Senioren.

Der Gesamt-Markt als monolithische, mono-kulturelle Masse, die nix als Fußball, Formel1 und Familie im Kopf hat. Die Realität sieht ganz anders aus: Ethnische Vielfalt, kulturelle Unterschiede, immer mehr Individualisten, immer mehr aktive Alte und auch immer mehr selbstbewußte, sichtbare Homosexuelle — allesamt jenseits abgegriffener Klischee-Schubladen.

Deutsche Marketer ignorieren die Unterschiedlichkeiten ihrer Märkte mit konsequenter Beharrlichkeit und bewundernswerter Professionalität. Da stört kein dunkler Typ das blonde Idyll, keine Augenfalte die strahlende Schönheit und keine Tunte die patriarchalische Machowelt. Man glaubt tatsächlich, daß die Kunden nur auf diese kitschigen Wunschbilder reagieren. Und weil die Marktforschung praktischerweise der selbstgesetzten Norm folgt, bemerkt auch niemand den Fehler. So geht deutsche Werbung an großen Teilen der Gesellschaft völlig vorbei: 25 % Senioren, 12,5 % Behinderte, 10 % Homosexuelle, 10 % sogenannte Ausländer etc. Spots und Anzeigen zeigen ihnen weder Wunsch noch Wirklichkeit.

Sowohl die großen Brands, die ohnehin über differenzierte Markenwelten verfügen, als auch die Nischenanbieter, die ohnehin findig und flexibel agieren, könnten längst erkannt haben, daß in der pro-aktiven Berücksichtigung von Vielfalt ihr vielleicht letztes Wachstumspotential schlummert. Statt dessen verharren die Erschließungs-Strategien in hilflos anmutenden Aktionen: Neben der mittelmässigen, millionenschweren Mainstream-Kommunikation entwickeln die Werber isolierte, extrem spitze Türken-, Jugend- oder Gay-Kampagnen ohne nennenswerte Budgets. Daß hierüber keine Glaubwürdigkeit und schon gar keine klare Positionierung erreicht wird erschließt sich praktisch von selbst.

Die entscheidenden Fragen sind: Muß sich Marketing stur auf normierte Durchschnittstypen ausrichten? Und: Sind differenzierte Marktsegmente nur über extrem spezifische Maßnahmen zu erreichen? Global Branding, europäische Integration, Individualisierung von LifeStyles und die Öffnung der Gesellschaft beantworten diese Fragen: Nicht im beschwörerischen Festhalten an tradierten Lebensstilen und Rollenvorstellungen, sondern in Aufgeschlossenheit, Internationalität und der Wertschätzung von Vielfalt liegt die Zukunft.

Eigentlich sollte Homosexualität genauso selbstverständlich zu dieser vielfältigen Realität gehören wie Heterosexualität. Trotzdem arbeitet Werbung fast ausschließlich entweder mit heterosexuellen Mechanismen oder mit Geschlechter-Klischees: Coole Aufreißer-Story für ihn, Putzwut für sie, Familien-Idyll für beide. Schwule, bzw. das, was sich der Mainstream darunter vorstellen will, werden bestenfalls zur Bespaßung von Schenkelklopfern herangezogen. Tunten und Transen sind immer wieder geeignet, die Überlegenheit echter Kerle in Erinnerung zu bringen.

Die positiven Zitate schwul-lesbischer Lebenswirklichkeiten sind dagegen an einer Hand abzählbar und insofern als Ausnahme-Erscheinung quasi nicht relevant. Dabei könnten Homosexuelle in vielen Fällen genauso unverkrampft integriert werden, wie Mann-Frau- Paare. Dies würde nicht nur Schwule und Lesben überhaupt ansprechen, sondern auch breite, aufgeschlossene Käuferschichten besser erreichen. Dazu muß sich eine Marke nicht unbedingt für das spezielle Gay Marketing entscheiden, und eine Notwendigkeit, schrille Fummel zu zeigen besteht ohnehin nicht.

„Normalität“ und „Selbstverständlichkeit“ heißen die Zauberformeln der Ansprache, die bei Befragungen in vielen Special-Interest-Segmenten – bei Senioren und Türken genauso wie bei Homosexuellen – immer wieder hervorstechen. Um dorthin zu gelangen, müssen in den Köpfen praktisch aller Beteiligten Mauern eingerissen um so das Kästchen-Denken zu beenden. Anstatt die Political Correctness in den USA zu belächeln, sollten wir besser hinter diese Kulisse schauen und lernen, wie „Diversity“ seit fünfzehn Jahren unter anderem das Marketing, die Werbung und Customer-Relations revolutioniert hat. Schwule und Lesben sind nur eine Facette der gesamten Vielfalt, die Deutschland als Erfolgsfaktor erst noch entdecken muß. Wie in anderen Bereichen werden sich auch hier die Ersten jeder Branche strategische Vorteile langfristig sichern.

Veröffentlicht in HORIZONT Nr. 10, vom 8. März 2001, Seite 16