Die Burka in der Bütt – Wenn Realität auf Brauchtum trifft

Zeitgemäße Tradition – kann es das überhaupt geben? Oder gar fortschrittliche Tradition? Ganz ehrlich: Jede Tradition war zu Beginn neu oder gar revolutionär, meist aber zumindest unerhört. Erst ihre Beständig-keit macht sie sprichwörtlich althergebracht und je nach Sichtweise verstaubt, überholt oder rückwärtsgewandt. Dem Kölner Karneval erging es nicht besser: Anfangs selbst Provokation wurde er über Jahrhunderte zum Inbegriff des konservativen Klüngels mit rigorosen Regeln
,politischem Protektionismus und vollständiger Veränderungsresistenz.Stunk gab es 1984 als JürgenBecker beschloss, den Pseudopossen einen Spiegel vorzuhalten: Seine Stunksitzungließ kein gutes Haaram traditionellen Karneval und stänkerte von links gegen Mainstream und Missstände in Politik undGesellschaft. Seit über 15 Jahren residiert die Ex-Sponti-Veranstaltung nun im professionellen E-Werk und bespaßt rund 40 Mal pro Session gut 1.000 Besucher plus TV-Zuschauer. Längst nicht mehr alternativ und autonom, aber immer noch zeitgemäß und zotig.Der nächste Tabubruch zielte auf den selbstverständlichen Sexismus des Kölner Karnevals, genauer gesagt, den Heterosexismus. 1994 präsentierte die – nomen est omen – homo-sexuelle Rosa Sitzung Hella von Sinnen als skandalöse Sitzungspräsidentin und verwandelte den Elferrat in ein Sixpäck, Raketen in Nümmerchen und das Alaaf in einAloha! Spätestens beim Anblick der Rosa Funken blieb den Traditionskarnevalisten das gezwungene Lachen imHalse stecken und es dauert Jahre, bis inder – nach eigenen Angaben – ach so weltoffenen Stadt Köln Schwule und Lesben als akzeptierter Bestandteil des närrischen Treibensintegriert wurden; z. B. indem die Rosa Funken (nur alsFußgruppe!) im Rosenmontagszug mitgehen durften oder die Stattgarde Colonia Ahoi in das Festkomitee des KölnerKarnevals aufgenommen wurde (2008). Bevor die Rosa Sitzung aber zum Mainstream werden konnte, wurde das Konzept verkauft und der Weg frei für neue Kreativität:Die Röschen-Sitzung bietet seit
2005 die erfrischend-bissige Alternative des schwul-lesbischen Karnevals. Der vorläufig letzte große Angriff auf traditionelle Karnevals-Bastionen startete 2006mit dem Immigrantenstadl.Dieser stellt eineechte Prüfungfür die Kölner Jeckeninstitution dar, denn Zugereiste übernehmen hier die Regie undgleich das komplette Programm.Von Brasilien bis Bayernund von Schweden bis Anatolyen stammen die Mitwirkenden, die natürlich ihre ganz eigene Interpretation von Froh-sinn vorstellen – das ist zu Ende gedachte Integration.Wie immer fällt die Außensicht besonders scharf, kritisch, pointiert und damit unglaubich witzig aus. Selbstredend werden
mehrere heilige Kühe, einheimische und fremdländische, ge-schlachtet. Politisch völlig unkorrekt zeigt die Multikulti-Truppe, was der Crossover von Tradition und Fortschrittbedeuten kann: Die nicht mehr heiligen, sondern eiligen drei Könige kiffen als Mafiabosse, Jesus trifft Mohammed und geschunkelt wird im Sirtaki-
Takt. Für den echten Karneval– der ist eine ernste Sache!– dürfte der Immigrantenstadl ebenso zuviel sein wie für Erz-Katholiken oder
strenge Moslems. Aber die Immis schauen auf alle Gruppen kritisch. Der Perspektivwechsel macht aus Kölschem Klüngel „Köl-lünlü Klike“, aus Ausländerfeinden den heimathafenlosen Kuckucks-Klan, aus dem Dom die Weltzentrale des inter-nationalen Verbrechens und aus einem debilen Poldi eine polnischen Intellektuellen
.Damit schafft diese innovative Form von Brauchtum etwas ganz wichtiges: Die Klippen der Integration mit Selbstironie und anderen Formen von Humor zu umschiffen. Und tatsächlich: Anstatt alle zu vergrätzen, vereint der Immigrantenstadl Einheimische und Zugereiste mit dem Schlachtruf „Gekommen um zu bleiben“. (ms)